Einführung
Die Frage danach, was Behinderung ist, mag erstaunen – ist Behinderung doch ein Alltagsbegriff, der ganz selbstverständlich verwendet wird: Wir sprechen davon, dass jemand „behindert ist“ oder „eine Behinderung hat“ und gehen davon aus, dass unserer Gegenüber genau weiß, was damit gemeint ist. „Behinderung erscheint so offensichtlich: ein fehlendes Glied, Blindheit, Taubheit. Was könnte einfacher zu verstehen sein?“ Im alltäglichen Sprechen suggeriert der Begriff die Bezeichnung einer homogenen Gruppe von Menschen und lässt Behinderung als immer und überall gleiches Phänomen erscheinen. Tatsächlich jedoch ist Behinderung eine komplexe, vielgesichtige, sich verändernde und relative Kategorie, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
Behinderung wird als Oberbegriff für zahlreiche, sehr unterschiedliche Abweichungen von den altersbezogenen Normalitätsanforderungen einer Gesellschaft verwendet. Diese Abweichungen können die Motorik, das Hören, Sehen, die Psyche, die Kognition oder verschiedene Körperfunktionen betreffen; sie können offensichtlich oder nicht sichtbar, leichter oder stärker ausgeprägt sein. Darüber hinaus gibt es vielfältige Ursachen sowie unterschiedliche Zeitpunkte des Auftretens in der Lebensspanne. Damit kann zunächst festgehalten werden, dass es sich bei Behinderung um eine „komplizierte, multidimensionale, facettenreiche Sammelkategorie“ handelt.
Der Begriff der Behinderung in der deutschen Geschichte
Der Begriff Behinderung, der heute so selbstverständlich als Sammelbegriff verwendet wird, ist noch recht neu. Lange erfolgte die Benennung der Normabweichung anhand der jeweiligen Beeinträchtigung – die Betroffenen waren die Tauben, Blinden, Lahmen, Krüppel etc. Es waren dann zunächst Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen selbst, die schon seit den Interner Link: 1920er Jahren nicht mehr als „Krüppel“ bezeichnet, sondern stattdessen „körperbehindert“ genannt werden wollten. Erstmalig in einem rechtlichen Zusammenhang taucht der Begriff der Behinderung in zwei Gesetzen der Nationalsozialisten auf: Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 übertrug den neu geschaffenen staatlichen Gesundheitsämtern unter anderem „die Fürsorge für körperlich Behinderte.“ Außerdem regelte das Reichsschulgesetz von 1938 unter anderem „die Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder“ und schrieb erstmalig deren Sonderbeschulung fest. Die Einführung von Behinderung als Oberbegriff für jegliche Art der Beeinträchtigung erfolgte jedoch erst 1961 mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes, das die Ansprüche „körperlich, geistig und seelisch Behinderter“ regelte. Von hier aus fand Behinderung als Sammelbegriff seinen Weg in die Alltagssprache.Hierbei fällt auf, dass der Begriff immer eine negative Konnotation enthält und mit Leid, Schmerzen und Abhängigkeit in Verbindung gebracht und auch nicht zwischen Ursache und Wirkung, individuellen und gesellschaftliche Aspekten unterschieden wird.
Nicht_Behinderung – fließende Grenzen
Anders als es im alltäglichen Sprachgebrauch erscheint, ist Behinderung eine in mehrfacher Hinsicht instabile Kategorie: Die Grenzen zwischen Behinderung und Nichtbehinderung sind oftmals fließend und nicht klar abgrenzbar. Auch verändern sich Bewertungen und Ursachen von Beeinträchtigungen im historischen Verlauf – durch erweitertes Wissen über den menschlichen Körper und eine verbesserte medizinische Versorgung, zu der auch Impfkampagnen gehören. So sind zum Beispiel Beeinträchtigungen aufgrund von Poliomyelitis („Kinderlähmung“) in den meisten westlichen Ländern nur noch bei älteren Menschen anzutreffen. Querschnittgelähmte Menschen, die vor der Entwicklung von Antibiotika oftmals früh an Infektionen verstarben, haben heute eine deutlich höhere Lebenserwartung. Die Aufmerksamkeitsstörung AD(H)S, die vor allem im schulischen Kontext diagnostiziert wird, ist dagegen eine recht neue „Behinderung“. An AD(H)S, wie an Lernbehinderung und bestimmten Formen sogenannter geistiger Behinderung, lässt sich zeigen, dass die Bewertung menschlicher Diversität von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängt: So spielt es in Gesellschaften mit einer mehr mündlichen als schriftbasierten Kultur keine Rolle, ob jemand in der Lage ist, Lesen und Schreiben zu erlernen. Und in einer Gesellschaft, in der nicht alle Kinder eine Schule besuchen (müssen), wird auch die Fähigkeit still zu sitzen und sich über einen bestimmten Zeitraum auf das Lernen zu konzentrieren, bedeutungslos. Ob eine bestimmte Eigenschaft bzw. deren Fehlen als „Behinderung“ bewertet wird, ist somit relativ bzw. von den Normalitätsvorstellungen einer Gesellschaft abhängig, die kulturell verschieden sein bzw. sich im historischen Verlauf verändern können.
Nicht nur im Lauf der Geschichte, auch im individuellen Lebenslauf können Veränderungen eintreten, die in Beeinträchtigungen bzw. Behinderung resultieren. Im Gegensatz zu anderen an den Körper gehefteten gesellschaftlichen Ungleichheitsdimensionen, wie Geschlecht, „Rasse“ oder Sexualität, kann im Hinblick auf Nicht_behinderung sehr plötzlich eine Veränderung eintreten: Behinderung kann jede_n jederzeit betreffen; auch erwerben fast alle Menschen, wenn sie lange leben, Beeinträchtigungen. Damit wird deutlich, dass Behinderung keine Erfahrung ist, die nur eine scheinbar kleine Gruppe von als „anders“ markierten Menschen betrifft, sondern eine allgemeine menschliche Erfahrung, deren Grenzen fließend sind – auch im Hinblick auf die Selbst- und Fremddefinition: Wer von anderen als „behindert“ angesehen wird, definiert sich nicht unbedingt selbst so. Und auch umgekehrt ist es möglich, dass Menschen sich selbst als behindert bezeichnen, möglicherweise sogar einen anerkannten Grad der Behinderung haben, aber von anderen nicht so “gelesen“ werden.
Normalität und die staatliche Definition von Behinderung im Wandel der Zeit
Wer sich mit dem Thema Behinderung beschäftigt, stößt automatisch auf das Thema Normalität: Normalität gibt es nicht ohne ihren Gegenpol: die Anomalität. An diesem Gegenpol werden behinderte Menschen verortet, da sie „durch unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit, häufig basierend auf gesundheitlichen Einschränkungen, und ggf. durch gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen, als von der gesellschaftlichen Normalität abweichend bewertet (werden)“. Es handelt sich bei Behinderung somit um „das andere“ der Normalität, bzw. um ein „spannungsreiches Wechselverhältnis zwischen ‚Normalität‘ und einem spezifischen Typus von ‚Anderssein‘“.
Der starke Normalitätsbezug im Kontext von Behinderung zeigt sich auch in den alten Definitionen des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Sozialgesetzbuchs IX von 2002: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 3 Behindertengleichstellungsgesetz 2002). Deutlich wird hier zum einen, dass die altersgemäße Normalität der Maßstab ist, der zugrunde gelegt wird. Zum anderen beschreiben diese Definitionen – die alte Definition von Behinderung im SGB IX lautete identisch – die Abweichung von der Normalität als ursächlich für Beeinträchtigungen der Teilhabe. Inzwischen sind die Behinderungsdefinitionen in beiden Gesetzen neu formuliert und deutlich verändert worden: „Menschen mit Behinderungen im Sinne dieses Gesetzes sind Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Als langfristig gilt ein Zeitraum, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert.“ (§3 Behindertengleichstellungsgesetz, Neufassung von 2018). Die erneuerte Definition des SGB IX von 2018 ist fast gleich lautend, wird jedoch ergänzt um den Satz: „Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.“ Als Behinderung wird nun nicht mehr die individuelle Beeinträchtigung angesehen, sondern sie wird als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen individuellen Beeinträchtigungen und Barrieren beschrieben. Dennoch wird am Bezug auf die altersbezogene (statistische) Normalität festgehalten – damit werden Beeinträchtigungen, die im höheren Alter eintreten und als für diese Lebensphase „normal“ angesehen werden, nicht als Beeinträchtigung im Sinne des Gesetzes eingestuft mit der Folge, dass unter Umständen kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB IX besteht.
Bei aller Fragwürdigkeit des hier fortbestehenden Normalitätsbezuges verdeutlichen die erneuerten Behinderungsdefinitionen dieser Gesetze jedoch die Veränderung im Denken über Behinderung, die seit einigen Jahren in der Behindertenpolitik zum Paradigmenwechsel „von der Fürsorge zur Selbstbestimmung“ geführt hat. Diesem Paradigmenwechsel bzw. dem veränderten Denken über Behinderung liegt ein Wechsel der Modelle von Behinderung zugrunde. Modelle bilden einen komplexen Gegenstand vereinfacht ab und machen ihn so „handhabbar“. Modelle von Behinderung verdeutlichen, wie Behinderung in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik verstanden wird. Damit haben sie großen Einfluss darauf, welche Teilhabemöglichkeiten eine Gesellschaft behinderten Menschen bietet.
Wechsel der Modelle von Behinderung
Bis in die 1970er Jahre und auch noch darüber hinaus bestimmte in Deutschland das sogenannte Interner Link: medizinische oder individuelle Modell das Denken über Behinderung. Es wurde allerdings nie ausdrücklich als Modell ausformuliert, sondern erst im Nachhinein von Kritiker_innen so bezeichnet: als „medizinisches Modell“, da Behinderung als direkte Folge einer vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung bewertet bzw. beides gleichgesetzt wurde; als „individuell“, weil Behinderung im Individuum verortet wurde. Behinderung wurde so mit dem medizinischen Problem, dem „Defekt“ der betroffenen Person gleichgesetzt. Diese „Defekte“ des Individuums sollten beseitigt, also geheilt, oder zumindest weitgehend normalisiert werden. Gesellschaftliche Auswirkungen, wie Stigmatisierung und Diskriminierung, schlechtere Bildung und Ausbildung, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, reduzierte Mobilität, das Leben in Sondereinrichtungen etc. wurden in diesem Modell als unausweichliche Folgen des medizinischen „Defekts“ angesehen. Mit diesem Blick auf Behinderung sind immer auch negative Zuschreibungen und Bewertungen verbunden, die Behinderung mit Abnormalität, Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unattraktivität und Passivität gleichsetzen. Behinderte Menschen wurden als hilflos, bedürftig, abhängig und geschlechtslos angesehen; als Gruppe, die nicht für sich selbst sprechen kann bzw. darf, weswegen sie Experten benötigt, die für sie spricht. Sie wurden nicht als Träger_innen von Rechten angesehen, sondern lediglich als Empfänger_innen von Mitleid und Almosen, für die Dankbarkeit erwartet wird. Damit wurde an behinderte Menschen permanent die Botschaft gesendet, sie seien „falsch“ oder unzureichend und müssten angepasst bzw. normalisiert werden. In der Konsequenz bedeutete dies für die als „behindert“ angesehen Menschen, dass fast alle Aspekte ihres Lebens von Behinderungsspezialist_innen wie Ärzt_innen, Therapeut_innen, Pädagog_innen fremdbestimmt wurden und das Leben vor allem in Sondereinrichtungen stattfand. Gesellschaftliche Teilhabe konnte so kaum gelebt werden; auch politische Selbstvertretung war nicht möglich.
Interner Link: Dies änderte sich in den 1970er Jahren, als auch junge behinderte Menschen von der durch die Frauen- und Studentenbewegung ausgelösten gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung erfasst wurden. So wie die Frauenbewegung die „Naturgegebenheit“ des Patriarchats infrage stellte, begannen behinderte Menschen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung zu hinterfragen und vor diesem Hintergrund eine andere Sichtweise von Behinderung zu entwickeln, die später als „soziales Modell von Behinderung“ bezeichnet wurde. Dieses Modell betrachtet Behinderung als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesses aufgrund einer Beeinträchtigung, durch den Menschen mit Beeinträchtigungen gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und der Respekt, abgesprochen werden. Dinge, die Menschen ohne Beeinträchtigung laut allgemeiner Auffassung selbstverständlich zustehen. Umgangssprachlich findet sich dieser Prozess in dem Slogan „Behindert ist man nicht, behindert wird man“ wieder.
Entstehung der Disability Studies und das soziale Modell von Behinderung
Zu einem tatsächlichen Modell von Behinderung entwickelt wurde diese Sichtweise mit dem Entstehen der Disability Studies in Großbritannien. Es basiert auf der analytischen Trennung von Beeinträchtigung (die funktionale Einschränkung einer Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung) und Behinderung (der Verlust oder die Beschränkung von Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilzunehmen aufgrund räumlicher und/oder gesellschaftlicher Barrieren). Besonders eindrücklich brachte dies bereits 1976 die britische Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) auf den Punkt: „Nach unserer Ansicht ist es die Gesellschaft, die behindert (…). Behinderung ist etwas, das zusätzlich auf unsere Beeinträchtigungen aufgesetzt wird, indem wir unnötigerweise isoliert und von der vollen Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Behinderte Menschen sind deshalb eine unterdrückte Bevölkerungsgruppe.“ Mittels dieser Trennung konnte verdeutlicht werden, dass nicht die Beeinträchtigung als solche, sondern der damit begründete soziale Ausschluss behindernd wirkt. Diese Erkenntnis bedeutete für das Selbstverständnis und den Widerstand behinderter Menschen einen fundamentalen Umbruch: Nicht sie waren „falsch“ – sondern die Gesellschaft, in der sie lebten. Deshalb mussten sie gegen die behindernden Strukturen kämpfen – als politische Behindertenbewegung. Dabei war unwichtig, wer mit welcher Art von Beeinträchtigung lebte, verbindend und identitätsstiftend waren jetzt die geteilten vielfältigen Erfahrungen des Behindertwerdens durch die Gesellschaft
Aus der (west)deutschen Behindertenbewegung gab es nie eine offizielle bzw. verbindliche Formulierung des zugrunde liegenden Modells von Behinderung. Geteilt wurde die Überzeugung, dass „Behinderung […] kein medizinisches, sondern ein politisches Problem“ ist sowie das radikale Infragestellen des alten, auf individuellem Leid beruhenden Behinderungsbegriffs. Auch hier bildete die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Ausgrenzung keine natürliche Folge von Beeinträchtigungen ist, die Grundlage für den politischen Kampf gegen be-hindernde Lebensbedingungen.
Das soziale Modell ist inzwischen vielfach kritisiert worden; unter anderem im Hinblick darauf, dass es nur die gesellschaftlichen Aspekte von Behinderung in den Blick nimmt, dabei jedoch die Erfahrungen, die behinderte Menschen mit ihren beeinträchtigten Körpern machen ebenso außen vor lässt wie zusätzliche Ausgrenzungserfahrungen durch Geschlecht, „Rasse“ oder die ökonomische Situation. Diese Kritik hat inzwischen sowohl zu Erweiterungen des sozialen Modells sowie zur Entwicklung des kulturellen Modells von Behinderung geführt.
Zu den Verdiensten des sozialen Modells zählt jedoch die Stärkung des Selbstwertgefühls behinderter Menschen und die Ermöglichung einer kollektiven wie auch positiven Identität „behindert“. Es war der Schlüssel zur Überwindung der vom individuellen Modell geprägten Sichtweise sowie zur Politisierung von Behinderung und bildete so die Grundlage für die emanzipatorischen Behindertenbewegungen in vielen Ländern, die Selbstbestimmung und Teilhabe, Bürger_innen- und Menschenrechte einforderten und weiter einfordern.
Paradigmenwechsel auf globaler Ebene – die UN-Behindertenrechtskonvention
Das durch das soziale Modell veränderte Denken über Behinderung mündete 2006 in die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die UN-Vollversammlung. Damit wurde der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik auch auf globaler Ebene vollzogen: Das Übereinkommen definiert Behinderung als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Barrieren. Es setzt sich damit klar von der traditionellen Sichtweise auf Behinderung ab und verdeutlicht, dass Behinderung eine Konstruktion ist, die von den jeweiligen historischen, kulturellen und politischen Bedingungen beeinflusst wird. Inzwischen ist die Konvention von fast allen UN-Mitgliedsstaaten ratifiziert und muss dort entsprechend in nationales Recht umgesetzt werden, um die zahlreichen von der Konvention aufgezeigten Barrieren abzubauen, die Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe – und damit an der Ausübung ihrer Menschenrechte (be)hindern und Bedingungen für ein Leben „gleichberechtigt mit anderen“ (Art 2 UN-BRK) zu schaffen.
Doing Disability
Die Konstruktion der Strukturkategorie Behinderung ist ein komplexes Geschehen. Die UN-BRK wie auch die inzwischen in ihrem Sinn neu formulierten rechtlichen Definitionen von Behinderung (s.o.) stellen heraus, dass Behinderung im Zusammentreffen von individuellen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen, also von Menschen gemachten, Barrieren entsteht. Damit bezeichnet werden viele Aspekte des täglichen Lebens, die die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen behindern: Da sind zunächst die offensichtlichen architektonischen Barrieren wie Stufen, fehlende Rampen und Aufzüge oder zu enge Türen, die vor allem mobilitätsbeeinträchtigte Menschen behindern, aber auch fehlende Leitsysteme für sehbeeinträchtigte Menschen. Weniger offensichtlich sind für nicht Betroffene die Barrieren, die die Kommunikation betreffen wie fehlende Übersetzung in Gebärdensprache oder Texte in Leichter Sprache. Darüber hinaus gibt es die einstellungsbedingten Barrieren, die sich in Vorurteilen, stereotypen Zuschreibungen, Verkindlichung, Bevormundung und anderen abwertenden Verhaltensweisen zeigen. Diese sind Ausdruck einer gesellschaftlich weit verbreiteten (bewussten oder unbewussten) Haltung, nach der das Leben mit Beeinträchtigung als weniger lebenswert erscheint. Diese wird seit einiger Zeit unter Bezug auf das englische Wort für fähig – able – als ableism bzw. dt. Ableismus bezeichnet. Ableismus wird kaum wahrgenommen, ist aber maßgeblich an der Konstruktion von Behinderung beteiligt, indem er die alltägliche Interaktion zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen im Sinne eines Doing Disability beeinflusst. Den Mechanismus des Doing beschrieben West und Zimmermann erstmalig 1987 im Kontext von Gender. Dieses Konzept lässt sich auf die Herstellung von Nicht_Behinderung übertragen – auch hier gibt es „eine gebündelte Vielfalt sozial gesteuerter Tätigkeiten auf der Ebene der Wahrnehmung, der Interaktion und der Alltagspolitik“, die als Ausdruck von Behinderung oder Nicht-Behinderung gedeutet und nicht hinterfragt, sondern reproduziert werden. Fortgeschrieben werden damit die Mythen, Vorurteile und Zuschreibungen, die behinderte Menschen als schwach, unselbständig, abhängig, nicht leistungsfähig, hilfebedürftig, unattraktiv oder nicht lebenswert markieren. Dieses Doing Disability findet über die gesamte Lebensspanne mit jeweils unterschiedlichen, für die jeweilige Lebensphase spezifischen Ausprägungen statt: vorgeburtlich im Kontext der Pränataldiagnostik, bei Diagnosemitteilungen, in der Sicht auf/ im Umgang mit Familien mit einem beeinträchtigten Familienmitglied, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, bei Ärzt_innenbesuchen, in privaten Kontakten. Doing Disability ist entscheidend daran beteiligt, dass Behinderung nach wie vor eine umfassende Erfahrung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist und ableistische, einstellungsbedingte Barrieren fortbestehen.
So zeigt sich, dass Nicht_Behinderung, entgegen der oft angenommenen Eindimensionalität und Zwangsläufigkeit des Phänomens, das Resultat eines komplexen gesellschaftlichen Prozesses ist, der ein großes Veränderungspotenzial hat, das noch längst nicht im Sinne des Abbaus behindernder Barrieren ausgeschöpft ist.